Was uns jetzt noch eint, ist Angst09.04.2021
„(...) eine Gesellschaft voller Angst, Hass und Argwohn und (...) die Verfolgung und Ausrottung Andersdenkender, all das war real. Allein deshalb bin ich überzeugt, dass wir nicht vergessen dürfen, dass wir uns selbst konfrontieren müssen, immer wieder.
Für die Freiheit der Gedanken und Worte.
Für die Freiheit.“
Wer das „Höllbachtal“ schon gelesen hat, kennt diesen Schluss des Nachworts, der sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bezieht. Und doch scheint er mir heute aktuell zu sein, sehr aktuell sogar, wenn man sich in den sozialen Medien bewegt, die derzeit notgedrungen für viele einen Großteil des realen Lebens ersetzen. Hass und Argwohn greifen um sich, Hass und Argwohn trennen und spalten diese Gesellschaft mittlerweile in einem Ausmaß, wie ich es in meinen 41 Lebensjahren noch nicht gesehen habe.
Hinter Hass und Argwohn aber steckt Angst, auf allen Seiten. Da ist die Angst vor dem Virus und seinen Folgen: Eigene Erkrankung, Ansteckung geliebter Angehöriger, Longcovid. Da ist aber auch die Angst vor den Maßnahmen der Regierung und ihren Folgen: Psychische Erkrankungen bei Kindern und Erwachsenen, physische Erkrankungen, deren Behandlung ausgesetzt wird oder die zu spät bemerkt werden, weil die Pandemie im Vordergrund steht, ein wirtschaftlicher Abstieg mit desaströsem Ausgang, ein Verlust unserer demokratischen Rechte, in die seit 1945 (zumindest im Westen des Landes) nicht mehr so massiv eingegriffen wurde wie heute, und eine vergiftete Gesellschaft mit zumindest zwei unversöhnlichen Seiten.
Beide Seiten dürften Ohnmacht und Hilflosigkeit empfinden. Die einen, weil es der Regierung nicht gelingt, die Infektionszahlen in den Griff zu bekommen, weil ihnen die Maßnahmen noch zu locker erscheinen, weil sie ihren Mitmenschen, vor allem denen, die mit den Maßnahmen hadern, misstrauen und sie für die Verbreitung des Virus verantwortlich machen. Die „Gegenseite“, wenn man es so nennen will, dürfte diese Ohnmacht empfinden, weil sie seit Monaten nicht gehört wird, weil ihre Ängste nicht ernst genommen werden, weil sie im Kreis der Regierenden nicht nur nicht diskutiert und berücksichtigt, sondern im Gegenteil sogar noch diffamiert werden.
Denn ja, da kommt für mich die Politik ins Spiel. Auf beiden Seiten werden diese Ängste der Menschen geschürt und missbraucht. Auf der Seite der „Maßnahmengegner“ sind es vor allem die AfD und ähnlich bedenkliche Gruppierungen, die den Widerstand der „Normalbevölkerung“ gegen die Maßnahmen, erwachsen aus der Angst davor, für sich instrumentalisieren. Auf der „Regierungsseite“ sind es Menschen wie zum Beispiel Ministerpräsident Söder, der schon beizeiten vor einer „Corona-RAF“ warnte und damit allen, die den Regierungskurs anzweifeln, mindestens einen leisen Hauch von Terrorismus verliehen hat. Dass Derartiges funktioniert, habe ich mit einigem Erschrecken letztes Jahr im November festgestellt, als in Regensburg eine „Querdenker“-Demo anberaumt war und unsere Nachbarn, durchaus gebildete Leute, ein großes Transparent am Balkon befestigten, mit der Aufschrift: „Keine Toleranz für Querdenker-Vollpfosten“. Ohne das letzte Wort hätte mich dieses Transparent nicht gestört, ich war schon immer und bin nach wie vor ein absoluter Verfechter der Meinungsfreiheit. (Eigentlich auch der grundlegenden Toleranz, aber ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn es unter dem Druck der andauernden Belastung mittlerweile schwerfällt, bestimmten Haltungen tolerant gegenüberzustehen.) Beleidigungen aber, egal ob nun „Vollpfosten“, Schlafschafe“, „Lemminge“, „Quarkdenker“, „Leerdenker“, „Obrigkeitshörige“ etc. zeigen, wie vergiftet die Stimmung in der Gesellschaft ist und schon sehr früh war: Argwohn und Hass, gegeneinander gerichtet, erwachsen aus Angst. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich und doch bezeichnend, dass sich beide Seiten gegenseitig den in Deutschland außerordentlich wirksamen schwarzen Nazi-Peter zuschieben: Die einen, weil sie sehen, wie die Gefahr von Rechts den „Widerstand“ für sich instrumentalisiert und deshalb, befeuert von der Politik, darauf schließen, dass alle Maßnahmenkritiker ein politischer brauner Hauch umweht. Die anderen, weil sie sich von den „Regierungstreuen“ diffamiert, geächtet und ungehört fühlen. Irgendwie, so sehe ich das, haben wohl beide Seiten nicht ganz unrecht, und tatsächlich kann ich nun nicht mehr nur theoretisch nachvollziehen, wie man einem Schreckensregime ggf. den Weg bereiten könnte: Man nehme Angst, sähe Hass und Argwohn und warte, bis das aufkeimende Pflänzchen die Angst verdeckt und den Weg bereitet in eine Polarisierung, die stark genug ist, extremen Kräften den Weg zu ebnen. Dabei wäre es so wichtig, auf beiden Seiten die Angst hinter dem Hass zu sehen – und sie ernst zu nehmen. Mein größter Wunsch ist, dass uns das gelingt, ehe wir im gesellschaftlichen Gegeneinander in den Abgrund driften.
Jetzt wird es persönlich: Wovor habe ich Angst?
- Ich habe Angst vor einer Virusmutation, die schlechter kalkulierbar ist als die bisherigen, die Jung und Alt, Gesund und Krank gleichermaßen betrifft, sodass allen zwischenmenschlichen Begegnungen eine noch größere Bedrohung innewohnt und nicht nur wie bisher vorrangig denjenigen, die man mit Menschen mit den bekannten Risikofaktoren hat.
- Ich habe Angst um die psychische Stabilität meiner Tochter, die die erste Klasse besucht und die ein ganz wundervolles, aber nicht besonders flexibles Kind ist, das mit der Unsicherheit, die man ihr nur in begrenztem Umfang nehmen kann (Weil: „Ich kann dir leider noch nicht sagen, ob nächste Woche Schule ist.“ „Ich kann dir leider noch nicht sagen, wann du deine Cousins und Cousinen wiedersiehst.“ „Ich kann dir leider noch nicht sagen, ob du deinen Geburtstag feiern kannst.“ „Ich kann dir leider noch nicht sagen, ob wir dieses Jahr in den Urlaub fahren.“) nicht besonders gut klarkommt. Auch um ihre Haltung zur Schule habe ich Angst: Sie wollte unbedingt 2020 eingeschult werden, obwohl sie erst kurz nach Schuljahresbeginn 6 Jahre alt wurde. Sie ist wissbegierig, das Lernen fällt ihr leicht, bis Mitte Dezember war alles in bester Ordnung. Dann kam das Homeschooling, und wir können trotz aller Bemühungen so vieles nicht ersetzen: nicht die motivierende Klassengemeinschaft, nicht die fähige und engagierte Pädagogin, nicht den Spaß mit den Freundinnen auf dem Klettergerüst in der Pause, nicht die ganzen unterschiedlichen Momente der Zwischenmenschlichkeit, die den Alltag trotz zu bewältigender Aufgaben für Kinder so spannend und fröhlich machen. Die Motivation und Freude am Lernen hat jedenfalls extrem gelitten; ich hoffe, das ist nicht prägend für die gesamte Schullaufbahn.
- Ich habe Angst um die langfristige Zukunft meiner Tochter, die auch einhergeht mit der Zukunft dieses Landes, vor der ich ebenfalls Angst habe: Wie gravierend und wie langfristig sind die wirtschaftlichen Folgeschäden? Wie werden die politischen Folgen sein? Wie die gesellschaftlichen, wie zerrissen, tolerant oder intolerant wird Deutschland zurückbleiben? Kann man hier auch nach dieser Krise, wann auch immer sie sich dem Ende zuneigen wird, noch ein gutes, im Rahmen gegenseitiger Rücksichtnahme freies, sicheres Leben führen? Und falls nicht, welche Konsequenz zieht man daraus? Muss ich schlimmstenfalls mein Kind aus seiner gewohnten Umgebung reißen?
- Ich habe Angst vor der unmittelbaren Zukunft: Wie viele Menschen werden noch sterben, bis es gelingt, dieses Virus unter Kontrolle zu bekommen? Wie lange geht das noch so weiter? Aber auch: Wie lange halte ich das als Einzelperson noch aus? Ich gestehe, mir fehlen die Lichtblicke. Das müsste nicht viel sein, ein geöffnetes Fitnessstudio, von mir aus auch Outdoor, würde da schon reichen. Oder, das natürlich sogar primär, eine geöffnete Grundschule. Oder eine geöffnete Restaurantterrasse. Oder dauerhaft geöffnete Buchhandlungen in Bayern, sodass ich nicht wieder Angst – schon wieder Angst – vor drastischen Umsatzeinbußen haben müsste, denn ab Montag gilt hier wieder Click and Meet, in weiten Teilen nur mit negativem Test. Alles übrigens Oder. Nicht Und. Einfach ein kleiner Lichtblick, der für mich das Durchhalten in dieser permanenten Bedrohungslage ein klein wenig erleichtert. (Friseure helfen mir leider nicht weiter, denn ehrlich gesagt: Meine Haare sind mir momentan absolut egal. Wobei ich mich für jeden freue, für den das dieser ersehnte Lichtblick ist.)
- Ich habe Angst vor den Folgen, kurz- und langfristig, die all das, was derzeit geschieht, für Menschen mit psychischen Problemen, Depressionen, etc. mit sich bringt – und das sind in Deutschland nicht wenige. Mir selbst bleibt das bisher zum Glück erspart, ich kämpfe persönlichkeitshalber eher gegen übersteigerten Freiheitsdrang und Lebenshunger. Trotzdem befürchte ich – aufgrund der besorgniserregenden Entwicklungen bei vielen Kindern und Jugendlichen, aufgrund der zahlreichen bedrohten oder zerstörten Existenzen, aufgrund der anhaltenden Isolation Älterer –, dass unsere Gesellschaft psychisch schon jetzt und auf nicht absehbare Zeit noch kaputter ist / sein wird als ohnehin schon.
- Zuguterletzt: Ich habe selbstverständlich auch Angst davor, dass sich jemand aus meinem persönlichen Umfeld infiziert und schwer erkrankt, so wie wir das wahrscheinlich fast alle haben. Aber interessanterweise bin ich hier nicht nur voller Angst, sondern vertraue auch auf die Vorsicht und das Verantwortungsbewusstsein der Menschen, wenn es um das eigene Leben oder das geliebter Mitmenschen geht, so wie ich selbst vorsichtig und verantwortungsbewusst bin. Die Aussage meiner alleinstehenden, 68-jährigen, eigentlich gutgelaunten Mutter nach mehrwöchiger Isolation im vergangenen Frühjahr – „Lieber sterbe ich früher, als noch einmal so viele Wochen völlig allein zu verbringen.“ – hat mir jedenfalls tatsächlich mehr Angst gemacht.
Das sind meine vorherrschenden Ängste, und aus Gesprächen mit manchen Menschen weiß ich, dass ich damit nicht allein bin. Aber ja, manchmal werde ich argwöhnisch, weil sie für andere Menschen wiederum gar nicht erst zu gelten scheinen, und ja, manchmal hasse ich mittlerweile sogar, weil sie in weiten Teilen seit Monaten so offensichtlich keine Rolle im Hinblick auf Entscheidungen spielen, noch nicht einmal diskutiert werden, sondern im Gegenteil in vielen Fällen ungehört und unerwähnt verhallen. Aber trotz Argwohn und Hass ist da zuerst einmal ... die Angst.
Es mag Menschen geben, die diese Angst ausblenden können, die den Rückzug ins Private zelebrieren, für die sich zunächst vielleicht auch gar nicht viel geändert hat, die die Augen vor dem verschließen können, was die nächsten Generationen womöglich erwartet, was uns alle erwarten könnte, morgen, in fünf Monaten, in fünf, zehn, oder fünfzehn Jahren. Ich kann es leider – oder zum Glück? – nicht.
Nur der Vollständigkeit halber: Habe ich Angst vor einer eigenen Infektion mit schwerem Krankheitsverlauf? Nein, tatsächlich nicht, weil – das habe ich im Verlauf des vergangenen Jahres für mich festgestellt – ich es für mich irgendwie ganz gut akzeptieren kann, dass Krankheit und Tod zum Leben gehören. Damit will ich nicht sagen, dass ich mich deshalb von Krankheit und Tod völlig unbedroht fühle, ich habe zum Beispiel eine Höllenangst vor Krebs (statistisch gesehen für deutsche Frauen in meiner Altersgruppe die häufigste Todesursache und damit gut 17-mal häufiger als Covid), sicher auch weil ich traurigerweise schon oft genug das lange, grausame Leiden miterlebt habe, das damit einhergeht. Langes Leiden fürchte ich, sterben will ich jetzt selbstverständlich auch noch nicht, aber leben bedeutet nun mal, dass dieses Risiko immer im Raum steht – wenn ich mich ins Auto setze, wenn ich rauche, selbst wenn ich keinerlei Risiko eingehe, sondern einfach bloß existiere. Dennoch verstehe ich jeden, der aufgrund seiner eigenen vorhandenen Risikofaktoren von Covid bedrohter ist als ich und deshalb Angst hat. Die Angst der anderen, derjenigen ganz ohne Risikofaktor, muss ich zugeben, kann ich nicht sehr gut nachvollziehen, denn die empfinde ich angesichts der permanenten anderen Bedrohungen, die das Leben naturgemäß mit sich bringt, als eher irrational.
Und was ist mit dem Schreckgespenst Longcovid? Das ist zweifellos sehr unschön, aber viele Krankheiten haben es leider an sich, nachzuwirken. Es gibt Longinfluenza, Longkrebs, Longpfeiffersches Drüsenfieber, Longschlaganfall, Longunfall, Longtrauma, Longautoimmunerkrankung, you name it. Das Leben ist leider auch dann keine fortwährende sorglose Party, wenn gerade keine Pandemie ansteht. Das für sich so anzunehmen, das Sich-immer-wieder-aufrappeln-Müssen als Teil des Lebens zu akzeptieren, finde ich und fand ich schon immer ziemlich hilfreich.
Der Traum von Solidarität
Ich wünschte, Solidarität würde in dieser Zeit nicht nur bedeuten, solidarisch beim Infektionsschutz zu sein und jeden zu verteufeln, der an manchen Dingen zweifelt. Ich wünschte, Solidarität würde bedeuten, einander ernst zu nehmen, Ängste ernst zu nehmen, die Verzweiflung anderer ernst zu nehmen: Die des Gastronomen oder Künstlers, der vor dem Ruin steht. Die der Eltern, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Die derjenigen, die verzweifelt gegen Depressionen kämpfen und mit jedem Tag ein Stück weiter in die Dunkelheit rutschen. Die der nach wie vor zahlreichen vereinsamenden Menschen in den Pflegeheimen. Die ihrer Angehörigen, die machtlos sind, die Vereinsamung und Verzweiflung zu beenden. Die derjenigen, die aufgrund ihrer Risikofaktoren (Alter, Vorerkrankungen, beides) ein Leben in Angst führen und auf die Impfung warten. Die derjenigen, die jemanden an die Krankheit verloren haben oder jemandem nahe stehen, der um sein Leben kämpft. Die derjenigen, die in den Krankenhäusern um das Leben der Patienten kämpfen, oft genug vergeblich. Die der Jugendlichen, die gerade eine so wichtige, einschneidende, für das ganze Leben prägende Etappe ihrer Entwicklung verpassen, und dabei noch dazu in eine ungewisse Zukunft blicken. Die derjenigen, die sich noch an ein Leben in Unfreiheit, mit Angst, Hass und Argwohn, in der damaligen DDR erinnern und denen die heutigen Entwicklungen begründet durch die eigenen Erfahrungen oder die ihrer Eltern so bedrohlich erscheinen, dass sie die Parallelen nicht ausblenden können, auch wenn die Ursachen dieses Mal anders liegen.
Wer kann abwägen, wie schwer welche Angst wiegt?
Und dann, weitergeführt, wünschte ich, man würde die Ängste seiner Mitmenschen nicht nur ernst nehmen, sondern füreinander eintreten. Nach Wegen suchen, die Situation zu verbessern, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Kämpfen, für die Impfung des Vorerkrankten, für die Zukunft des Gastronomen, für die psychische Gesundheit der Mitmenschen, für die Zukunft unserer Kinder, für einen menschenwürdigen und sicheren Infektionsschutz, für bessere Arbeitsbedingungen für Ärzte und Pflegekräfte, und vielleicht, aber das ist meine ganz persönliche, durchaus angreifbare Meinung, für mehr Eigenverantwortung und gegenseitige Rücksichtnahme, ohne die längerfristig in einer Gesellschaft ohnehin wenig funktioniert, die aber diese Gesellschaft im Hier und Jetzt möglicherweise wieder ein Stück weit einen könnte.
Die Politiker sind längst im Wahlkampf und propagieren seit langem das „Gegeneinander“.
Ich wünschte, wir würden einfach nicht mehr mitmachen.